Glasmalerei des Mittelalters

Von mittelalterlicher Glasmalerei geht eine Faszination aus, deren vielschichtige Voraussetzungen großenteils unbewußt bleiben. Diese verbindet sich meist mit Räumen, die ihre ursprüngliche Farbverglasung scheinbar lückenlos bewahrt haben, etwa mit der Kathedrale von Chartres oder der Sainte-Chapelle in Paris. Entsprechend einseitig und eng sind im allgemeinen die Vorstellungen von Form, Funktion und Wirkung mittelalterlicher Farbverglasungen. Daß diese von einer kaum mehr nachvollziehbaren Mannigfaltigkeit waren, legt schon die architektonische Entwicklung der Fensterformen und ihre von Bauaufgabe zu Bauaufgabe, von Landschaft zu Landschaft wechselnde Proportionierung und Verteilung nahe. Mit diesen ganz verschiedenartigen Rahmenbedingungen mußten sich die Glasmaler ebenso auseinandersetzen wie mit den Wandlungen, denen die darzustellenden Bildprogramme im Laufe der Jahrhunderte unterworfen waren. Auch die wechselnden Auftraggeber, ihre Vorstellungen und finanziellen Möglichkeiten spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Dennoch kann man die mittelalterliche Glasmalerei nicht als eine von der Architektur abhängige, unselbständige, angewandte, handwerkliche Kunst bezeichnen, die lediglich Bilderfindungen anderer Kunstgattungen auf Glas übertragen hätte. Eine solche Wertung würde die komplexe Bedeutung der Farbverglasungen für den mittelalterlichen Kirchenraum und ihre tiefe Wirkung auf den mittelalterlichen Menschen, aber auch den durch die ständig wechselnden Rahmenbedingungen herausgeforderten Erfindungsreichtum der Glasmaler völlig verkennen. Vielmehr machen Material und Technik, welche die Glasmalerei weder mit der Wand- noch mit der Tafelmalerei teilt, diese zu einer besonders vollkommenen Gattung mittelalterlicher Malerei, der einzigen, die das natürliche Licht zur künstlerischen Gestaltung zu nutzen vermochte. Nirgends sonst konnten so unmittelbar wie hier Fläche und Linie, Farbe und Licht mit scheinbar so einfachen Mitteln wie Farbgläsern, Bleiruten und eingebrannten Lot- oder Schmelzfarben zum vollkommensten Träger mittelalterlicher Bilderwelt gemacht werden.

Die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Glasmalerei nach Jahrhunderten der Vernachlässigung und Ablehnung setzte bezeichnenderweise gerade zu jenem Zeitpunkt ein, da ihr Fortbestand auf vielfältige Weise bedroht war - im Zeitalter der Aufklärung und Romantik. Im Gefolge der Französischen Revolution wurden damals die politischen, sozialen und religiösen Lebensbedingungen so grundlegend verändert, daß seither allen früheren Verhältnissen der Charakter des Abgeschlossenen, nur noch historisch Relevanten anhaftet. Seit dem späten 18. Jahrhundert ist denn auch die historisch-kritische Reflexion der Vergangenheit wie ihre sentimentale Aneignung zu einem zentralen Bestandteil unserer kulturellen Identität geworden. Dieser innere Zwiespalt bestimmt seither unser Denken und damit auch unser Verhältnis zur Kunst der Vergangenheit wie der Gegenwart.

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